Mittwoch, 24. November 2010

Die Brüder im Norden

Nur die Kampfflugzeuge am abendlichen Horizont und die Soldaten in Uniform, die einem fast täglich irgendwo über den Weg laufen, erinnerten mich bis jetzt daran, dass mein Auslandssemester in einem Land stattfindet, das sich im Kriegszustand befindet. Gestern allerdings wurde mir die politische Situation Koreas mehr denn je bewusst.

Die Fahrstuhltür öffnet sich. Seungyong und ich betreten ein Cafe im 6. Stock. Wir sind in Hongdae, dem Künstler- und Partyviertel Seouls. Zuvor hatten wir in einem Restaurant Grillfleisch gegessen und waren durch die Straßen geschlendert. Jetzt treffen wir Seungyongs Freundin, die gerade Kaffee mit einer Bekannten trinkt. Das Cafe ist extravagant eingerichtet. Die Fenster sind riesig und haben individuelle Formen; man hat einen guten Blick auf die Stadt, in der die Sonne bereits untergegangen ist. Wir setzen uns unter eine überdimensionale Papierlampe neben die Mädels in bequeme Sessel und bestellen unseren Kaffee. Nach dem üblichen Smalltalk auf Konglish fragt Seungyong die Damen, ob sie Neues vom Angriff wüssten. Welcher Angriff? Sie wussten von nichts.

Seungyong erklärt, was er mir bereits erzählt hatte: Nach einem südkoreanischen Militärmanöver auf See, dicht an der nordkoreanischen Grenze, wurde am Nachmittag von Nordkorea aus eine südkoreanische Insel bombardiert.
Auf dem Weg zum Cafe waren wir vor einem Fernseher im Schaufenster stehen geblieben und hatten viele dicke Nebelschwaden von einer kleinen Insel aufsteigen sehen. Telefon und Internet funktionieren dort nicht mehr. Man weiß von 2 Toten und mehreren Verletzten.
Die Mädels sind geschockt. Schon wieder. Und dieses Mal so heftig.
Im letzten Frühjahr war ein südkoreanisches U-Boot versenkt worden. Damals – ich war ja noch Deutschland – nahmen meine koreanische Freunde den Vorfall mit Bedauern wahr, blieben aber viel gelassener als die Journalisten internationaler Medien: das passiert halt immer wieder.
Dieses Mal, betonten alle, ist es anders als sonst. Während der U-Boot Vorfall immer noch nicht einwandfrei aufgeklärt ist, war dies ein offener Angriff ohne jeden Grund.
Ja, man sei dicht an Nordkorea herangefahren, hätte aber weder die Grenze überschritten noch die Schussübungen Richtung Norden abgefeuert. Nordkorea spricht von Verteidigung.

Inzwischen hat Seungyong eine kleine Fernsehantenne an seinem Handy ausgeklappt und einen Nachrichtensender angeschaltet. Alle atmen auf. Die Lage scheint sich zu beruhigen. Die südkoreanische Regierung wolle sich nicht provozieren lassen und bemühe sich um Deeskalation. Nordkorea habe inzwischen verlautet, sie hofften auf bessere Kommunikation in der Zukunft und forderten mehr humanitäre Hilfe für ihre Bevölkerung.

Einer der zwei getöteten Soldaten war Student an meiner Uni gewesen. Er hatte eigentlich einen Tag zuvor Dienstende gehabt, konnte aber wegen schlechten Wetters die Insel nicht verlassen. Seine Abreise nach Hause wurde also auf den nächsten Tag verschoben; den Tag, an dem die Insel nordkoreanischen Bombenhagel aushalten sollte. Das kling wie aus einem schlechten Film und ist leider Wirklichkeit.

Angesichts solcher Nachrichten ist es nachvollziehbar, dass viele junge Koreaner kein Interesse an einer Wiedervereinigung haben. Für sie ist Nordkorea seit Geburt schon immer ein fremdes Land gewesen. Wegen diesem Land müssen alle Männer 2 Jahre zum Wehrdienst und noch lange danach einmal jährlich in Soldatenmontur zum Militärtraining erscheinen. Wegen diesem fremden Land sterben jedes Jahr Menschen; Familienmitglieder, Freunde, Kollegen.
Ich habe mich hier schon oft über den Konflikt unterhalten. Es gibt so viele unterschiedliche Meinungen wie Menschen. Manche hoffen schon noch irgendwie auf eine Wiedervereinigung, anderen ist es egal, wieder andere wünschen allen Nordkoreanern die Pest an den Hals. Angst im Alltag hat hier aber niemand. Manche nennen es eine Volkskrankheit: man ist zwar permanent im Krieg, hat aber die Fähigkeit verloren das wahrzunehmen. Wie sollte man auch sonst leben können.

Als ich im Sommer die Fußballweltmeisterschaft verfolgte, überraschte mich die Aussage eines südkoreanischen Journalisten, als er gefragt wurde, ob er sich die Spiele von Nordkorea anschaue. Er antwortete: „Die politische Situation unserer Länder ist so angespannt, wie lange nicht mehr. Aber natürlich sehe ich die Spiele Nordkoreas und feuere die Mannschaft an. Das sind doch unsere Brüder aus dem Norden.“

Auch ich halte eine Wiedervereinigung Koreas für immer unwahrscheinlicher. Zu verfahren erscheint der politische Konflikt. Zu tief sind auch die emotionalen Verletzungen, die mit jedem Todesopfer tiefer werden.
Trotzdem sind vielleicht gerade die Deutschen Menschen, die nicht aufhören können auf eine Wende zu hoffen. Sicher, der Koreakonflikt ist scheinbar von anderem Kaliber als die deutsche Vergangenheit mit der DDR. Aber auch meine Eltern erzählen, für wie unmöglich sie ein vereinigtes Deutschland gehalten hatten und wie sehr sie noch heute staunen, dass das möglich wurde. Es gibt kein Patenrezept und Schönwettersprüche aus dem Poesiealbum helfen niemandem. Aber gerade als Deutscher kann ich letztendlich doch nicht aufhören zu hoffen.
Ich habe mich gefreut, als ich mitten in Seoul auf drei originale Teile der Berliner Mauer stieß. Vor ihnen auf dem Boden, ist ein Grußwort der Stadt Berlin eingraviert.

Nochmal deutlich, falls sich jemand Sorgen macht: mir geht es gut und ich fühle mich sicher.

Dieses Mal gibt’s keinen spannenden Musikclip, aber dafür ein extrem schmalziges Lied, das mir in einem Café in Incheon aufgefallen ist: eine typische koreanische Ballade mit leichtem Weihnachtstouch. Es ist nicht gerade neu, aber irgendwie gefällt es mir und der Titel passt zum Jetzt: „ich warte“. In Deutschland beginnt der Advent und man wartet auf Weihnachten. In Korea wartet man auf Frieden.




Liebe Grüße,
Jonathan

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