Montag, 6. September 2010

Das Riesenbaby (01.09.2010)

Schon ist die erste Woche rum. Weil ich noch nicht sofort ins Wohnheim konnte, wohnte ich die ersten Tage bei Seungyong. Er ist ein guter Freund von meinem besten koreanischen Kumpel in Mainz und ich hatte ihn während seines Europatrips im Juli schon kennengelernt. Seungyong hat eine kleine Wohnung mitten in Hongdae, dem angesagten Studenten-, Party- und Künstlerviertel. Dort wohnt der angehende Profigitarrist mit seiner sehr außergewöhnlichen Katze Dangkong (benimmt sich eher wie eine Mischung aus Mensch und Hund; ist außerdem ein richtiges Plappermaul). Das war wirklich super für den Start. Soviel schon mal zusammenfassend vorweg: Mir gefällt es wirklich gut hier.

Seoul ist riesig, laut, bunt und voll von Menschen. Alle sehen ganz anders aus als ich, sprechen eine mir noch recht fremde Sprache und beschriften alles mit schönen Zeichen, die ich leider nur im Erstklässlertempo entziffern kann. Viele Koreaner können zumindest ein bisschen Englisch, vermeiden es aber so weit es geht, ihre Fremdsprachenkenntnisse anzuwenden. So komme ich mir all zu oft vor wie ein Riesenbaby, das, stets freundlich bemüht, letztendlich doch überhaupt nicht peilt, was vor sich geht. Das fängt schon beim Smalltalk an, geht beim Essen mit Stäbchen weiter und hört beim Bus- und U-Bahnfahren noch längst nicht auf. Ja, Seoul kommt mir vor, wie ein fremder Planet. Überall brauche ich Hilfe.

Seungyong hat mich total gastfreundlich, fast väterlich unter seine Fittiche genommen. Mit ihm habe ich vor allem Hongdae erkundet und die zahlreichen, kreativen Cafés, Bars und Restaurants besucht. In dem Café, in dem er mal ein paar Monate gejobbt hatte, bekam ich auch alleine selbstverständlich 50% Rabatt auf alles und manchmal den Kaffee sogar umsonst. Da er ein eigenes Auto hat, lud Seungyong mich ein, zum Haus seiner Eltern zu fahren, um das Leben abseits der Hauptstadtmetropole kennenzulernen. Cooler Weise besitzt sein Vater eine Pension direkt am Meer der Westküste Koreas. Bei Aprilwetter bestaunte ich die schöne Küstenlandschaft mit ihren Sandstränden, Kiefernwäldern und aus dem Meer ragenden Felsen. Hatte teilweise echt was von Skandinavien.

In dieser ersten Woche habe ich im Grunde jeden Tag Leute um mich gehabt, die ich schon aus Deutschland kannte. Einige hatte ich länger nicht gesehen, andere hatten Mainz nur ein paar Tage vor mir verlassen. Zufälligerweise ist zur Zeit auch Boris, ein Freund aus dem Koreanischsprachkurs, in Seoul zu besuch. Von daher war das Riesenbaby immer bestens unterhalten und fühlte sich auf dem fremden Planeten doch auch irgendwie heimisch. Das änderte sich allerdings Sonntag, als ich nach Jugjeon auf den Campus meiner Uni zog.

Bye bye Seoul, hallo Jugjeon. Jugjeon gehört im sprichwörtlich weiten Sinne noch zum Einzugsgebiet Seouls, ist aber nicht mehr Seoul. Noch vor vier Jahren lag die Dankook Universität im Herzen Seouls. Als die Uni aufgrund hoher Schulden kurz vor der Schließung stand, verkaufte sie ihre Immobilien und Grundstücke in der Stadt. Die Uni machte damit offenbar so viel Geld, dass sie ihre Schulden tilgen und einen komplett neuen Campus in Jugjeon aus dem Boden stampfen konnte. Der Campus liegt umsäumt von Wäldern auf einem Berg. Ist schön, aber anstrengend, weil man permanent bergauf oder bergab läuft. Mein Studentenwohnheim liegt natürlich ganz oben, im hintersten Eck auf dem Berg. Völlig abgeschnitten von der Außenwelt bin ich dann aber doch nicht. Im „Tal“ direkt vor dem Campus gibt viele Ess- und Trinkmöglichkeiten. Ein kostenloser Shuttlebus bringt die Studenten den ganzen Tag über zur nächsten U-Bahnstation und einem großen Supermarkt. Außerdem dauert es mit einem Expressbus nur ca. 40 Minuten bis in die Innenstadt Seouls; wenn der Verkehr mitspielt. Hier auf dem Campus bin ich jetzt jedenfalls wirklich auf mich allein gestellt. Das Riesenbaby muss laufen und sprechen lernen.

Auch an der Uni vermeiden es die meisten Studenten – jedenfalls die, die ich bis jetzt getroffen habe – Englisch zu reden. Ist fürs Koreanischlernen super. Erleichtert den Start dazu allerdings nicht wirklich. Am ersten Abend im Wohnheim suchte ich irgendjemanden, um zu erfahren, wie man sich hier ins Internet einwählt. Blickkontakt funktionierte nicht. Glücklicherweise sah ich durch eine Glaswand einen jungen Studenten in der Mensa, der eine DFB-Shorts trug. Na, wenn das nicht der richtige Ansprechpartner für einen deutschen Austauschstudenten ist. Schon durch die Glastür bemerkte er unruhig, dass ich ihn ins Visier genommen hatte. Er hielt sich ungewöhnlich lange damit auf, das dreckige Geschirr wegzustellen und nochmal Wasser zu trinken. Aber ich ließ mein Opfer nicht mehr aus den Augen. Schließlich hatte er keine andere Möglichkeit mehr, als die Mensa durch die Glastür zu verlassen – und damit auf mich zu zugehen. Mit einem freundlichen „Annyonghaseyo“ ließ ich ihn zusammenschrecken. In gebrochenem Koreanisch erklärte ich ihm: „Ich bin Deutscher. Ich mag deine Hose.“ Er taute merklich auf und antwortete lachend: „Yes, I like the german national soccer team.“ „Aha! Du sprichst also Englisch!“ „Oh, nein, nein! Nur ein ganz ganz kleines Bisschen!“ „Egal, ich glaube du kannst mir helfen.“ Und das konnte er tatsächlich. Am Ende des Gesprächs wusste ich, wo ich das Netzwerkkabel fürs Internet bekommen konnte, hatte seine Handynummer für weitere Hilferufe und er nannte mich vertrauensvoll „Hyung“, älterer Bruder.

Ich wollte noch viel mehr schreiben, aber ich denke, es reicht für heute. Während ich im Bett liege und diesen Eintrag verfasse, donnert es so krass laut, dass ich für Augenblicke überlegte, ob Nordkorea vielleicht die Nerven verloren habe. Inzwischen ist es angenehm kühl geworden. Unangenehm laut zirpen die Millionen Grillen vor meinem Fenster. Noch ist das Bett neben mir leer, aber ein Mitbewohner soll in den nächsten Tagen hier einziehen und das Zimmer mit mir teilen. Vom noch unbekannten Mitbewohner, den zwei Chinesen, der netten Studentin (der ich im Supermarkt hinterherlaufen durfte) und den Hightechschlössern an koreanischen Zimmertüren erzähle ich vielleicht nächstes Mal.

Bis dahin, liebe Grüße,
euer Jonathan.

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